Notfallversorgung: Was Patienten seit der Schließung der Wertheimer Rotkreuzklinik erleben – Froh über Pläne zur Wiedereröffnung
Von unserem Redakteur Matthias Schätte
WERTHEIM-REINHARDSHOF. Seit der Schließung der Wertheimer Rotkreuzklinik Anfang Juni haben Patienten weite Wege bis ins nächste Krankenhaus. Wenn es auf jede Minute ankommt, kann eine fehlende Klinik in der Nähe dramatische Folgen haben. Ein Notfallpatient und eine Herzpatientin erzählen, was sie erlebt haben. Beide sind froh, dass das Krankenhaus bald wieder öffnen könnte.
Odyssee bis Hanau
Helmut Arnold denkt mit Grausen an den 25. Juni zurück. Morgens gegen 6 Uhr wacht er mit starken Schmerzen im rechten Bein auf. Der 90 Jahre alte Nassiger leidet unter einer seltenen Erkrankung, bei der sich Proteine im Körper abnorm falten, verketten und in verschiedenen Geweben und Organen ansammeln. Das kann unter anderem zu Gefäßverengungen oder -verschlüssen führen. Und genau das ist an diesem Morgen passiert, in der Arteria Poplitea, einer Schlagader in der Kniekehle, die den Unterschenkel mit Blut versorgt. „Ich hatte starke Schmerzen und konnte nicht mehr auftreten“, sagt er. Jetzt ist schnelle Hilfe gefordert. Arnold wählt den Notruf.
Von 6 bis 17 Uhr
„Die Sanitäter von der Rettungswache in Wertheim waren schnell da und haben einen guten Job gemacht“, erklärt er einige Tage später. Doch es wird am Ende bis 17 Uhr dauern, bis der Arterienverschluss aufgelöst ist. Das Wertheimer Krankenhaus ist zu diesem Zeitpunkt bereits geschlossen. Also bringt der Rettungsdienst Arnold ins 36 Kilometer entfernte Erlenbach. Dort wird die potenziell lebensgefährliche Totalverengung festgestellt.
Um helfen zu können, braucht es eine Klinik mit Gefäßchirurgie – etwa in Hanau. Nach zahlreichen Telefonaten wegen eines freien Betts geht es mittags weiter dorthin. In Hanau wird die Arterie durch einen Kathetereingriff wieder geöffnet. „Danach war das Bein wieder sehr wohlfühlend“, erinnert sich Arnold. Am nächsten Tag wird er entlassen – 84 Kilometer mit dem Taxi nach Hause.
Vorbereitung hätte in Wertheim stattfinden können
Ob sich das wiederholen könnte? Möglich. Auch das linke Bein sei gefährdet. Hätte das Wertheimer Krankenhaus helfen können? Für die OP selbst nein, meint ein langjähriger Klinikarzt. Aber die vorbereitenden Untersuchungen hätten dort stattfinden können. „Ich freue mich auf jeden Fall, dass es das Krankenhaus wieder geben soll“, sagt Arnold.
Probleme durch lange Wege
Hausärzte berichten seit der Schließung von zahlreichen Fällen, bei denen sich Klinikaufnahmen verzögern oder Patienten früh entlassen werden. Christina Gläser, Sprecherin der Wertheimer Hausärzte, sagt: „Wir haben mehrfach erlebt, dass Patienten sehr früh wieder aus der Klinik entlassen werden, ohne gut versorgt zu sein.“ Notärzte suchten oft lange nach einem freien Bett. Die Berichte sammelt Internist Hans Werner Sudholt, von 1985 bis 2012 Chefarzt am Wertheimer Krankenhaus. Den Fall Arnold kannte er bislang nicht, vermutet aber: „Die Geschichte wäre anders gelaufen, wenn das Krankenhaus noch da wäre.“
Einsatzfahrten mit Hindernissen
Sudholt nennt weitere Fälle: Krankenwagen, die in Würzburg abgewiesen werden und in Kist umdrehen müssen. Einsatzfahrten über 90 Minuten. Kein Rettungswagen vor Ort, als in einer Praxis ein Herzinfarkt diagnostiziert wird. „Das ist täglich Brot“, sagt Sudholt. Auch CDU-Fraktionschef Axel Wältz berichtete von einem Patienten, der von Urphar bis nach Erlangen gebracht wurde.
Betten oft nur auf dem Papier
Viele Betten seien aus Personalmangel abgemeldet. Das gelte auch für Tauberbischofsheim, wo man zwar Kapazitäten aufgestockt, aber nicht alle Betten nutzen könne. Im Klinikum Main-Spessart stieg die Notaufnahme-Auslastung um zehn Prozent, stationär um vier Prozent. Auch Tauberbischofsheim und Bad Mergentheim verzeichnen mehr Notfälle – nicht nur wegen Wertheim, sondern auch wegen fehlender Hausärzte.
Wiederaufbau geplant
Alexander Gläser, Geschäftsführer der Westfalenklinik-Gruppe, will möglichst viele Kapazitäten der Notfallversorgung wiederherstellen. Eine Schlaganfalleinheit sei geplant, ein Herzkatheterlabor sei noch offen. Das Gesundheitsministerium signalisiere Bereitschaft, den Hochlauf zu begleiten.
„Ohne Klinik in der Nähe habe ich Angst“
Auch Bärbel Schmitt weiß, wie wichtig ein Krankenhaus in der Nähe ist. Die 60-Jährige sitzt seit 24 Jahren im Rollstuhl und war oft Patientin in Wertheim. Am 20. Dezember 2022 sackt sie mit Luftnot zusammen – Verdacht auf Herzinfarkt. In der Klinik wird eine Lungen- und Herzmuskelentzündung diagnostiziert. Sie erhält einen Schrittmacher mit Defibrillator. Der muss nun regelmäßig in Lohr kontrolliert werden, ihr Kardiologe ist dorthin gewechselt. „Ich hoffe sehr, dass mit der Wiederinbetriebnahme alles gut geht“, sagt sie.
Über Wegzug nachgedacht
Zwischenzeitlich dachte sie über einen Umzug nach. Doch das sei schwer, nicht zuletzt wegen ihres Hundes Lucy. „Ohne Krankenhaus fehlt mir die Sicherheit.“ Sie ist froh über die Wiederbelebung des Krankenhauses – emotional wie praktisch: „Das wäre super. Wir brauchen dieses Krankenhaus ganz dringend.“
Hintergrund: Wenn das Krankenhaus fehlt
Das Aus der Wertheimer Rotkreuzklinik hat ein Loch in die Karte der medizinischen Versorgung der ganzen Region gerissen. Bereits im September 2023 hatte die Rotkreuz-Schwesternschaft München ein Schutzschirmverfahren beantragt. Die Schließung erfolgte am 3. Juni 2024.
Laut Kliniksimulator des GKV-Spitzenverbandes leben im Umkreis von 30 Pkw-Minuten rund 77.000 Menschen. Vor der Schließung lag die durchschnittliche Fahrtzeit bei 19,4 Minuten, jetzt bei 32,7 Minuten. 50.000 Menschen brauchen nun mehr als eine halbe Stunde ins nächste Krankenhaus – besonders betroffen sind Freudenberg, Dorfprozelten, Stadtprozelten und Faulbach.
Quelle: Zeitung – Wertheim – SAMSTAG/SONNTAG, 17./18. AUGUST 2024 17